Wie soll das alles nur mit dem Homeoffice funktionieren? In diesem Beitrag teile ich meine Erfahrungen und 5 wichtigsten Erkenntnisse, warum für Unternehmen eine konstruktive Fehlerkultur gerade jetzt während Corona überlebenswichtig ist und warum sich die meisten Unternehmen selbst im Weg stehen.
Für den schnellen Überblick:
Die letzten Monate waren turbulent, unvorhersehbar und unüberschaubar. Die meisten meiner Kunden sind auf virtuelles oder hybrides Arbeiten umgestiegen. Dabei habe ich folgendes beobachtet: Es wird endlich offen über Fehler gesprochen! Wenn die Menschen nicht gleich mit den neuen online Tools zurechtkommen und Fehler machen, wird geduldig erklärt und gewartet. Es wird offen geäußert, dass man sich noch nicht auskennt und Probleme hat. Und wenn die Technik streikt, wartet man eben bis sie wieder funktioniert. Das ist ein toller Zeitpunkt, um das Buzzword Fehlerkultur wiederzubeleben!
In der für viele Menschen neuen, virtuellen Zusammenarbeit ist es also auf einmal ok, Fehler zu machen und vor allem offen darüber zu sprechen. Wir sitzen nämlich alle im gleichen Boot. Wie sieht es aber aus, wenn es nicht um den Umgang mit neuen, digitalen Tools geht? Was, wenn die Fehler in der operativen Arbeit oder in Führungsentscheidungen liegen? Haben wir dann immer noch so viel Verständnis?
Warum ist eine konstruktive Fehlerkultur gerade jetzt überlebenswichtig?
Fehlermachen gehört zum Menschsein dazu. Ob man will oder nicht. Den fehlerlosen Menschen gibt es nicht und gab es auch noch nie. Noch viel wichtiger: Wir Menschen müssen Fehler machen, um uns weiterzuentwickeln und zu wachsen. Fehlermachen ist ein Bestandteil von Lernen, Kreativität und Innovation. Bei Komplexität und sich schnell ändernden Bedingungen muss man schnell Entscheidungen treffen und wie immer, merkt man meistens erst hinterher, ob die Entscheidung für das gewünschte Ziel förderlich oder hinderlich war. Deshalb ist ein konstruktiver Umgang mit Fehlern für Organisationen in der aktuellen und komplexen Welt überlebenswichtig.
Jetzt wird sich entscheiden, welche Unternehmen sich durch Kreativität und Innovationen, neuen Ideen, schnellen Entscheidungen und neuen Geschäftsmodellen den komplexen Umweltbedingungen anpassen können und welche Unternehmen mit Angst und Starrsinn untergehen. Mut, sich zu trauen Fehler zu machen und zu wachsen wird nur durch eine konstruktive Fehlerkultur möglich sein. Spätestens jetzt ist es also an der Zeit die Fehlerkultur in den Vordergrund zu rücken und die Zusammenarbeit neu zu gestalten!
Eins ist allerdings klar. Was vor Corona nicht funktioniert hat, wird durch die virtuelle Zusammenarbeit nicht automatisch besser. Der ein oder anderen Organisation hat Corona sicherlich den Kick gegeben zu gestalten und erfinderisch zu werden. Die Mehrheit meiner Kunden berichtet mir allerdings, welche Hindernisse bestehen, dass abgewartet wird und sich nicht getraut wird Fehler zu machen und mutig zu sein. Die virtuelle Zusammenarbeit kann neben vieler neuer Möglichkeiten eine erfrischende Dynamik für das eine Team mit konstruktiver Fehlerkultur darstellen. Für ein anderes Team mit eher schwach ausgeprägter bis destruktiver Fehlerkultur, kann die virtuelle Zusammenarbeit jedoch ein erschwerender Faktor sein. Deshalb müssen die Weichen für die Zukunft jetzt gestellt werden! Aber nochmal von vorne:
Was ist überhaupt ein Fehler? Und was wird unter Fehlerkultur verstanden?
Diesen Fragen bin ich aus wissenschaftlicher Perspektive auf den Grund gegangen. In der Literatur findet man bis heute keinen einheitlichen Fehlerbegriff, weil sich die Forscher aus unterschiedlichen Richtungen diesem Thema nähern. Fehler werden allerdings überwiegend als von einer Norm abweichende Sachverhalte oder von einer Norm abweichende Prozesse verstanden. Nach Hofinger (s. Literaturempfehlung unten) haben alle Fehlerdefinitionen jedoch einen gemeinsamen Kern: „Fehler sind eine Abweichung von einem als richtig angesehenen Verhalten oder von einem gewünschten Handlungsziel, das der Handelnde eigentlich hätte ausführen bzw. erreichen können.“ Und vor allem passieren Fehler nie verschuldet oder unter böser Absicht. Ansonsten handelt es sich um Verstöße wie beispielsweise Fälschung oder Täuschung. Ein Fehler ist außerdem von Irrtümern oder Missverständnissen abzugrenzen, da es hier die handelnde Person nicht besser wusste.
Unter Fehlerkultur versteht man die Art und Weise, wie Menschen mit Fehlern umgehen. Der zwischenmenschliche Aspekt steht im Vordergrund, ganz im Gegensatz zu den Regelungen und Maßnahmen zum Umgang mit Fehlern und deren Konsequenzen durch die Geschäftsleitung. Fehlerkultur wird im Kontext der Unternehmenskultur betrachtet und steht in Wechselwirkung zu dieser. Je nachdem wie die Werte in einer Organisation gelebt werden, kann sich eine Fehlerkultur in eine konstruktive oder eine destruktive Fehlerkultur entwickeln.
Die konstruktive Fehlerkultur wird dabei auch mit einer sog. „Lernenden Organisation“ verbunden. Eine konstruktive Fehlerkultur unterstützt die Bearbeitung von Fehlern und Lernprozessen. Sie entfaltet vielfach positive Wirkung auf die Menschen durch beispielsweise Angstreduktion, Sicherheit, Kompetenzaufbau und Weiterentwicklung. Die Lernende Organisation führt zu gesunden Menschen in einer gesunden Organisation. Im Gegensatz dazu ist bei einer destruktiven Fehlerkultur der Fehlerumgang durch Vertuschung sowie Verleugnung, Angst, Verunsicherungen, Kompetenzverlust und Sanktionen geprägt. Sie führt zu kranken Menschen in einer krankmachenden Organisation. Demotivation, Frustration, Aggression, Resignation und Unterwerfung können weitere Folgen sein.
Es gibt also immer eine Fehlerkultur. Die Frage ist eher, ob sie konstruktiv oder destruktiv ist.
Doch warum wird eine konstruktive Fehlerkultur oftmals nicht gelebt?
Ob virtuelle Welt oder nicht, meine Kunden berichten mir immer wieder, dass es keine konstruktive Fehlerkultur bei ihnen gibt, sondern nur schicke Powerpoint Slides, auf denen davon die Rede ist. Vor allem aber, dass die Führung sehr schlechte Vorbilder sind. Ich wollte also herausfinden, warum es oft so schwer ist über Fehler zu sprechen und eine konstruktive Fehlerkultur auch wirklich zu leben. Und warum viele Führungskräfte ihre Mitarbeitenden immer noch angreifen, bloßstellen oder demütigen, wenn sie einen Fehler begangen haben. Nach Abgleich mit der Praxis und meiner wissenschaftlichen Recherche bin ich der Meinung, dass folgende Punkte für Unternehmen eine große Bedeutung haben:
1. Durch Fehler erleben Menschen meistens unangenehme Emotionen, die in Unternehmen oft unberücksichtigt bleiben
Weil Fehler mit unangenehmen Emotionen wie Scham, Angst oder Unsicherheit verbunden sind, gehen Menschen diesen lieber aus dem Weg. Dann kann es auch schon mal passieren, dass Fehler vertuscht werden. Es braucht also ein besonderes Vertrauensverhältnis um über Fehler sprechen zu können. Emotionen werden in der Unternehmenswelt jedoch wenig beachtet. Dabei spielt das Menschenbild eine wichtige Rolle. Oftmals wird zusätzlich noch beschämt, wenn die Führungskraft den:die Mitarbeiter:in öffentlich anprangert und verantwortlich macht.
2. Ein negatives Menschenbild schwebt unbewusst über allem
Unausgesprochene und durch Führung implizit vorgelebte Menschenbilder beeinflussen die Fehlerkultur enorm. Streben die Führungskräfte nach Fehlerlosigkeit und haben sie beispielsweise das Bild des „homo oeconomicus“, des rational denkenden und handelnden Menschen, verinnerlicht, wird es sehr schwer werden eine konstruktive Fehlerkultur zu etablieren, die den Menschen als verletzliches und unperfektes Wesen einbezieht.
3. Einen Schuldigen zu finden ist einfacher als die Zusammenhänge zu untersuchen
Fehler entstehen durch eine Verkettung unterschiedlicher Ereignisse und am Ende sitzt irgendwo ein Mensch, der den Fehler begangen hat. Dieser Mensch wird oft zur Rechenschaft gezogen. Aber so einfach ist das nicht! Menschen machen in der Regel nicht absichtlich Fehler. Die Ausnahme ist wirklich eine Ausnahme. (Hier kannst Du gleich mal überprüfen, welches Menschenbild Du hast.) „Blaming“ hilft nicht die Ursache für den Fehler zu finden. Der Fehler an sich kann meistens jedem anderen auch passieren. Einen Schuldigen zu suchen ist also Schwachsinn!
4. Es gibt selten Lernräume, in denen Fehler passieren dürfen ohne Schaden anzurichten
Nur wer Fehler machen darf, traut sich Neues und geht über das Gewohnte hinaus. Um in der komplexen Welt bestehen zu können, muss man innovativ bleiben und sich weiterentwickeln. Und dafür braucht es vertrauensvolle Räume zum Fehlermachen. Will ein Unternehmen also langfristig am Markt bleiben, muss es immer wieder neu erfinden und Fehler zulassen.
5. Fehlerkultur wird nicht mit Gesundheit und Leistung in Verbindung gebracht
Es ist eigentlich ganz einfach: Eine gesunde Unternehmenskultur wird durch eine konstruktive Fehlerkultur unterstützt, in der gesunde und leistungsstarke Mitarbeitende arbeiten. Diese wiederum haben positive Auswirkungen auf den Erfolg des Unternehmens und auf die Gesellschaft.
Für mich war der größte AHA-Moment meiner Recherche - und im Nachhinein auch vollkommen logisch - dass in den meisten Organisationen auch im Kontext der Fehlerkultur die Emotionen der Menschen unzureichend berücksichtigt werden. Wie sollen sich die Mitarbeitenden denn trauen mutig zu sein, Fehler zu machen und ihr gelerntes mit anderen Kolleg:innen zu teilen, wenn sie keinen vertrauensvollen Rahmen vorfinden und sie Gefahr laufen bewertet, verurteilt oder bloßgestellt zu werden?
Meiner Meinung nach ist der sensible Umgang mit Emotionen der Schlüssel zur konstruktiven Fehlerkultur. Die Nicht-Beachtung erklärt, warum in den meisten Unternehmen eine positive Fehlerkultur zwar gewünscht ist, aber nicht gelebt wird. Wenn die Führungskräfte und Mitarbeitenden keinen Schutzraum haben, wird es nicht möglich sein Fehler machen zu wollen, um zu lernen, sich weiterzuentwickeln und um sich wirklich zu öffnen. Glücklicherweise ist es in vielen Fällen möglich einen vertraulichen Rahmen für eine Fehlerkultur zu schaffen! Am besten fängst Du in Deinem Team an! In meinem nächsten Blogbeitrag erfährst Du Beispiele, wie man eine konstruktive Fehlerkultur einleiten kann.
An dieser Stelle interessiert mich besonders, wie Du die o.g. Punkte für Dein Unternehmen einschätzt. Wie ist Deine Erfahrung? Ich bin gespannt auf Deine Meinung. Nutze dafür gerne die Kommentarfunktion unterhalb des Blogbeitrags.
Interesse mehr zu erfahren? Oder Du fragst Dich, wie ich auf die Aussagen komme? Hier findest Du die Ergebnisse in meiner kurzen, wissenschaftlichen Arbeit „Emotionen bei Fehlern und das Zusammenspiel mit der Fehlerkultur in Organisationen“:
Das Coverbild ist während unseres MeetUps zum Thema Fehlerkultur am 23.03.2021 entstanden. Vielen Dank, Nadja Hönicke, für Dein kleines Kunstwerk.
Wer bei einem unserer MeetUps dabei sein möchte, kann sich hier kostenlos anmelden.
Literatur zum Vertiefen:
Bösch, I. M. (2006). Aus Fehlern lernen lernen. In T. Eiselen (Hrsg.), Fehler als Innovationschance (Wandel und Kontinuität in Organisationen, Bd. 7, S. 25 - 58). Berlin: Wiss. Verl. Berlin.
Hofinger, G. (2012). Fehler und Unfälle. In P. Badke-Schaub & G. Hofinger (Hrsg.), Human Factors (S. 40-59). Berlin, Heidelberg: Springer.
Mehl, K. (1993). Über einen funktionalen Aspekt von Handlungsfehlern, was lernt man wie aus Fehlern (Fortschritte der Psychologie, Bd. 8). Münster: LIT.
Reason, J. (1990). Human error by James Reason. Cambridge: CUP.
Schüttelkopf, E. M. (2008). Erfolgsstrategie Fehlerkultur. Wie Organisationen durch einen professionellen Umgang mit Fehlern ihre Performance optimieren. In G. Ebner, P. Heimerl & E. M. Schüttelkopf (Hrsg.), Fehler, Lernen, Unternehmen. Wie Sie die Fehlerkultur und Lernreife Ihrer Organisation wahrnehmen und gestalten (S. 151-314). Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH.
Hallo Frau Rinke,
danke für den informativen Beitrag.
Ich würde aus meiner Erfahrung noch folgendes ergänzen, was ich zur Zeit bei der Unterstützung eines Unternehmens in Sachen "Umgang mit Fehlern" erlebe.
Trotz Bekenntnis und Kommunikation zu einer offenen Fehlerkultur, enden viele Untersuchungen von unerwünschten Vorfällen mit dem Ergebnis "Hauptursache Human Error". Mit der Folge, dass eher an den Symptomen, dem Mitarbeiter, dem ein Fehler passiert ist, herumgedoktert wird als an den wahren Ursachen.
Warum? Weil die wahren Ursachen im System nicht bekannt sind?
Warum? Weil Methoden, Routinen und Werkzeuge für die Untersuchung von einzelnen Vorfällen eingesetzt werden, die ursprünglich für die Untersuchung von chronischen Fehlern entwickelt wurden: die Suche nach der einen (!) Hauptursache; z.B. mit den 5xWarum?-Fragetechnik. Oder die…